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Zur Entwicklung einer kurdischen Schriftkultur

von Riza Baran

Die Bedingungen für die Entwicklung einer kurdischen Schriftkultur sowie für die Herausbildung einer Nationalsprache waren für das kurdische Volk während seiner langen Geschichte nie günstig. Jahrhunderte lang wurde es von den verschiedenen Regionalmächten beherrscht, ohne je eine politische und staatliche Einheit zu bilden.

Die Menschen kurdischer Sprache und Kultur wurden immer wieder an den Rand dieser Gesellschaften gedrängt. Die meisten gebildeten KurdInnen orientierten sich deshalb an den nicht-kurdischen Zentren. Diejenigen, die sich um die Herausbildung einer kurdischen Literatur und Schriftkultur bemühten, fanden wenig Verbreitung im eigenen Volk, das in seiner Mehrheit von schulischer Bildung ausgegrenzt wurde.

An dieser Situation hat sich bis heute wenig geändert. Die KurdInnen leben im Iran, Irak, in Syrien, der Türkei und in der Emigration. Im angestammten Kulturkreis haben sie wenig Möglichkeiten eine einheitliche Kultur oder länderübergreifende Vorstellungen eigener gesellschaftlicher Ziele und Ideen zu entwickeln. Dementsprechend existiert nur wenig kurdische schriftliche Literatur und auch eine mündliche Verkehrssprache existiert kaum.

Kurdisch ist eine indoeuropäische Sprache. Aufgrund ihrer Zersplitterung und Sprachverfolgung ist sie nicht fertig standardisiert. Vielmehr gliedert sich die kurdische Sprache in vier zum Teil stark voneinander abweichende

Dialekte

  • Kurmanci (Kurdi)
  • Sorani
  • Zazaki (Dimili, die als entferntere Sprachgruppe betrachtet wird)
  • und Gorani.

Damit wird die interne Verständigung der KurdInnen stark behindert.

Zentrale Bedeutung von Sprache

Diese Situation ist also nicht zufällig entstanden, sondern Resultat gesellschaftlicher Machtverhältnisse, welche auch heute noch KurdInnen in ihren Herkunftsländern auf unterschiedliche Weise sozial, ökonomisch und politisch ausgrenzen. Die Auseinandersetzung um die Sprache ist dabei von zentraler Bedeutung. Denn in der eigenen Sprache ist die Auseinandersetzung über gemeinsame Positionen und Interessen am ehesten möglich. Menschen, die ihre Muttersprache nicht mehr benutzen dürfen oder sie nicht entsprechend ihrer aktuellen Situation weiterentwickeln können, sind massiv eingeschränkt: Sie können sich schwieriger verständigen, sie sind in Schulen und Universitäten benachteiligt, sie können ihnen zustehende Rechte schwerer durchsetzen und einfordern, denn in all diesen Aspekten kommt es oft auf die sprachlichen Nuancen an. Die Zersplitterung der kurdischen Sprache liegt also im Interesse der Mächtigen.

In der Türkei galt bis 1991 das Sondergesetz Nr. 2932 (Sprachenverbotsgesetz) vom 19.10.1983, das die Benutzung aller in der Türkei ansässigen, gesprochenen Sprachen außer Türkisch verbot. Paragraph 3 der Verfassung der Türkei von 1982 besagt: „Die Muttersprache der türkischen Staatsangehörigen ist türkisch. Es ist verboten: jegliche Betätigung zur Benutzung und Verbreitung einer anderen Sprache außer türkisch als Muttersprache; das Tragen von Plakaten, Transparenten, Losungen, Schildern in den Versammlungen und Demonstrationen und ähnliches, Senden von Stimme, Schallplatten und Bildstreifen und sonstigen Ausdrucksmitteln.“

Die etwa 20 Millionen KurdInnen in der Türkei waren Jahrzehnte lang staatlichen Repressalien bis hin zu Gefängnisstrafen, Folter und physischer Vernichtung ausgesetzt. Dennoch hatte das Gesetz nicht den gewünschten Erfolg, denn Kurdisch wurde trotz der erheblichen Behinderungen weiter gesprochen. Allerdings ist die türkische Sprache Staatssprache und wird in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen verwendet. Sie wird entsprechend den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft weiterentwickelt. Das Kurdische dagegen wird bestenfalls toleriert.

Im Zuge der EU-Beitrittskandidatur verpflichtete sich die Türkei – den Kopenhagener Kriterien von 1993 entsprechend – ein Gesetz zu erlassen, das die Minderheitsrechte in der Türkei auch für die kurdische Minderheit zu garantieren. Am 02.08.2002 beschloss die „Große Nationalversammlung der Türkei“ dann ein Gesetzespaket, dass in den Bereichen Bildung, Erziehung und Medien die kurdische Minderheit angemessen zu berücksichtigen ist.

Die Aufhebung des Sprachverbots nahm der Unterdrückung der kurdischen Kultur in der Türkei zwar die Spitze, von einer Gleichberechtigung türkischsprachiger und kurdischsprachiger Menschen kann jedoch bis jetzt nicht die Rede sein. Gerade auch die Umsetzung des Parlamentsbeschlusses wird seitens der Bürokratie permanent unterlaufen. Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Regierung dieses Gesetzespaket endlich umsetzt – nicht zuletzt, damit die Voraussetzung für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt werden kann.

Ausblick

Eine gleichberechtigte Behandlung von türkischer und kurdischer Sprache würde die Einführung des Kurdischen als Amtssprache, mindestens in den überwiegend von KurdInnen bewohnten Gebieten bedeuten. Gesetze und Verwaltungsvorschriften müssten ins Kurdische übersetzt werden. Kurdische Kinder müssten in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, wofür wiederum die entsprechenden Voraussetzungen in der LehrerInnenausbildung und in der Erstellung von Unterrichtsmaterialien zu schaffen wären. Weiter Konsequenzen ergäben sich für die Bereiche der beruflichen Bildung, der medizinischen Betreuung – kurz für alle Lebensbereiche.

Doch für eine solche Übersetzungsarbeit fehlt es bisher nicht nur am ernsthaften Interesse der türkischen Regierung, sondern auch an der Entwicklung der vernachlässigten kurdischen Sprachkultur. Die Ansätze einer einheitlichen kurdischen Schriftsprache müssten ausgebaut werden, wobei sie gleichzeitig in einen sinnvollen Vermittlungszusammenhang mit den jeweils gesprochenen Dialekten stehen müsste. Problematisch gestaltet sich vor allem die Tatsache, dass je nach Herkunftsland drei Alphabete verwendet werden, nämlich lateinisch, arabisch sowie kyrillisch. Bei der Realisierung dieses Projektes könnten die Erfahrungen von Staaten mit mehreren auch als Amtssprache verwendeten Schriftsprachen nützlich sein.

Den KurdInnen in der Türkei wie in den übrigen kurdischen Herkunftsländern fehlen zur Zeit die ökonomischen und politischen Voraussetzungen, um eine einheitliche Schriftsprache zu entwickeln.

Vor allem in den Bereichen Bildung und Medien ist die Vereinheitlichung und Modernisierung der kurdischen Sprache im Irak am weitesten fortgeschritten, in dem der Sorani-Dialekt vorherrschend ist. Durch die aktuellen Entwicklungen im Irak kann erwartet werden, dass sich diese Entwicklung verstärken wird.

Emigrierte KurdInnen in anderen Ländern dagegen könnten die so dringend notwendige und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben unerlässliche Entwicklung voranbringen, denn sie können ihre Sprache und Schrift ohne Repressionen entwickeln. Am weitesten verbreitet unter den kurdischen EmigrantInnen ist das Kurmanci.

In Berlin, Paris, Brüssel und Stockholm gibt es kurdische Institutionen, die an einer Konvergenz hin zu einer leistungsfähigen kurdischen Verkehrssprache arbeiten könnten. Das Ausland ist inzwischen ein Zentrum der kurdischen Kultur, dem besondere Verantwortung zukommt. Statt nur darauf zu warten, dass die türkische Regierung die kurdische Sprache fördert, sollten die KurdInnen hier selbst damit beginnen.

14.05.2003

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