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Aufregung um Kurden-Studie in der Türkei

Von Lotte Incesu & Sheref Meresh

Für eine heftige Debatte hat in den vergangenen Monaten eine wissenschaftliche Studie gesorgt, die der Verband der türkischen Handelskammern und Börsen (TOBB) veranlasst hatte. Gegenstand: die Lage der Kurden in der Türkei. Brisant ist die Untersuchung auch, weil der TOBB-Vorsitzende Yalim Erez als „regierungsnah“ bekannt ist.

Unter Leitung von Dogu Ergil, Professor für politische Wissenschaften an der Universität Ankara, waren während eines Zeitraums von 18 Monaten 1267 Kurden aus den Zentren des kurdischen Widerstandes – wie Batman, Mardin, Diyarbakir – sowie aus den westlichen Städten wie Adana, Mersin und Antalya befragt worden. Anfang August 1995 wurden die Ergebnisse unter dem Titel „Die Südostfrage: Diagnosen und Prognosen“ veröffentlicht. Nach einer Studie des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) über „die Auswanderungsgründe der Kurden in die westlichen Metropolen“ handelt es sich hiermit um die zweite Meinungsumfrage unter der kurdischen Bevölkerung in der Geschichte der Türkei. Befragt wurden die Kurden über ihre Vorstellungen zur Lösung des Konfliktes, über Schulunterricht und Muttersprache, über ihre Einschätzung der Rolle der PKK, über ihre wirtschaftliche Lage.

Scheitern der bisherigen Kurdenpolitik bestätigt

Das Ergebnis bestätigt jene, die seit langem eine politische Lösung der Kurdenfrage fordern.
In einer Vorstellung der Studie wurde angeführt, die bisherige Kurdenpolitik sei gescheitert. Es sei ein Fehler gewesen, die Kurdenfrage einzig und allein als Sicherheitsproblem anzusehen und nur militärisch anzugehen. Die PKK sei nicht die Ursache des Problems, sondern ihr Ergebnis, gestärkt durch die Schärfe der militärischen Konfrontation, so die Autoren. Die Praxis des Ausnahmezustandes, der die „Niederschlagung“ zum Hauptziel erklärt hat, habe eine „Notstandslogik“ hervorgebracht. Diese bewerte alles als schädlich und jedermann als „verdächtig“.

Die Untersuchung weist auch auf den Umstand hin, dass die von Ankara zum Kampf gegen die PKK eingesetzten Dorfschützer und die Spezialeinheiten von Armee und Gendarmerie in illegale Geschäfte wie Schmuggel verwickelt seien und sich als „agents provocateurs“ betätigten. Zum Teil seien Personen zu Dorfschützern gemacht worden, denen sonst eine Inhaftierung drohte. Der Bericht fordert, dass Dorfschützer nicht als zusätzliche bewaffnete Kraft eingesetzt werden dürfen:

„Es könnte Samen für Blutrache mit Langzeitwirkung gepflanzt werden.“

Da die zu Sicherheitskräften ausgewählten Personen aus stark nationalistischen Kreisen stammten, gingen sie besonders rücksichtslos mit der regionalen Bevölkerung in Kurdistan um. Es sei ein extremer Druck auf die Dorfbewohner ausgeübt worden, Waffen ab- und Namen preiszugeben. Als Reaktion darauf sei die Unterstützung für die Guerilla gewachsen.

In der Studie heißt es:

„Gesellschaftliche Stabilität lässt sich nicht nur mit militärischen Mitteln herstellen. Das Sprichwort ‚wer einen Hammer in die Hand nimmt, sieht alle Probleme nur als Nägel‘, bringt sehr gut zum Ausdruck, wie Politik nicht gemacht werden sollte. Die Türkei muss die Schwächen, die von Vernachlässigungen über lange Jahre herrühren, so bald wie möglich beseitigen. Die große Ungleichheit unter den gesellschaftlichen Schichten und das Gefälle zwischen geographischen Gebieten muss auf ein vernünftiges Maß gebracht werden. Anders ist der innere Friede und die Solidarität nicht herzustellen.

Eine Türkei, die ihr eigenes Integrations(Ganzheits)problem nicht löst, wird auch für die Welt ein Integrationsproblem darstellen. Das Ziel eines politischen Projektes, das in dieser Richtung entwickelt wird, muss die Demokratisierung der Republik sein. Es ist für die Türkei von zunehmender Dringlichkeit, die grundlegenden Menschenrechte zum zentralen Wert der Rechtsprechung zu machen, was gleichbedeutend damit ist, die klassische Demokratie, deren Einrichtung mit der (Gründung der) Republik geschaffen wurden, auf das Individuum anzuwenden.“

Würde die türkische Regierung prokurdische Stimmungen tolerieren, die ökonomischen und sozialen Probleme der Kurden und Kurdistans ernst nehmen, so würde auch die Unterstützung für die PKK schwinden. Dogu Ergil: „Die PKK ist das uneheliche Kind dieses Systems.“ Die TOBB fordert mehr demokratische Rechte für die Kurden und deren faire Behandlung. Insbesondere müsse die wirtschaftliche, administrative und kulturelle Situation in der Region verbessert werden:

„1. Die Gegend muss schleunigst entwickelt und der Lebensstandard der Menschen angehoben werden.
 2. Damit das Individuum von jeglicher traditioneller Vormundschaft befreit wird, müssen umgehend soziale, kulturelle und schulische Reformen eingeleitet werden.
 3. Die Basis der Politik muss möglichst breit angelegt werden, außer den Separatisten muss jegliches Programm und jegliche Organisationsform ermöglicht werden.
Man muss sich mit einem schmerzhaften Geständnis der Meinungsträger auseinandersetzen: Im Osten ist das Kurdentum unter Verdacht geraten. Deswegen hat sich bei jedem Kurden in unterschiedlichem Ausmaß der Komplex entwickelt, eine ‚verdächtige Person‘ zu sein.“

Ein Problem der verweigerten kurdischen Identität

Der Bericht gliedert sich in drei Teile:
1. Die ansässige Bevölkerung in Ostanatolien und die Emigration (Flucht) aus diesem Gebiet
– Feldstudie in den südlichen Provinzen
2. Wissenschaftliche Analyse der Gespräche mit lokalen Meinungsträgern
3. Vergleiche mit der IRA und ETA
– hierzu wurden Gespräche mit Vertretern der EU in Brüssel geführt.
Bei der Würdigung der Umfrageergebnisse ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sie in Gebieten stattfanden, in denen noch immer der Ausnahmezustand herrscht. Kritische Äußerungen gegenüber der bestehenden Kurdenpolitik laufen in der Türkei darüber hinaus ohnehin Gefahr, als „Separatismus“ kriminalisiert zu werden. Auch steht die Bevölkerung in den Ausnahmezustandsgebieten in der Zange zwischen Repressalien der Sicherheitskräfte auf der einen und Druck von der PKK auf der anderen Seite.
Dogu Ergil über Material und Methodik:

Die Studie hatte sehr beschränkte Geldmittel. Lediglich eine Milliarde türkische Lira (umgerechnet 30 000 DM) standen zur Verfügung. Im Südosten ist es nicht möglich, planmäßig zu arbeiten. Schon die Verhinderung der Einreise ist möglich.

„Wir konnten nicht überall die Fragebögen ausfüllen lassen, weil die Menschen Angst hatten. Batman ist zum Beispiel ein Ort, wo die Menschen zerstückelt werden und auf ihre Gesichter Salpetersäure gegossen wird. Die Studie wird als wenig wissenschaftlich (…) kritisiert. Sollen die Kritiker doch kommen und es zu den gleichen Bedingungen wissenschaftlicher machen. (…) Die Gegenreaktionen wollen eine Diskussion verhindern. Aber die Ergebnisse sind keine Neuigkeiten. Aus Beobachtungen und Erfahrungen wusste man vieles. Wir haben zum ersten Mal eine wissenschaftliche Feldstudie durchgeführt. Vor allen Dingen hat diese Studie einen Trennungsstrich gezogen zwischen demokratisch und undemokratisch Gesonnenen, zwischen denen, die eine vernünftige Lösung wollen und solchen, die diese ablehnen. Diese Angelegenheiten berühren die Staatssicherheit. Es ist wichtig, dieses Thema zur Gegenstand der Diskussion zu erheben.“

Im Einzelnen belegt die Studie, dass in wirtschaftlicher Hinsicht die Schere zwischen der Westtürkei und dem kurdischen Osten immer größer geworden ist. Die Situation, nach der sich Kurdistan ökonomisch als Hinterhof der Türkei darstellt, ist ein wesentlicher Faktor für die steigende Binnenmigration aus den Kurdengebieten. Noch immer sind in den überwiegend agrarisch geprägten Kurdengebieten feudale Strukturen vorherrschend. 80 % der Befragten besaßen kein eigenes Land. 40 % hatten wegen Arbeitslosigkeit ihrer Heimat gen Westen den Rücken gekehrt. Gegenüber einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 2000 Dollar im Landesdurchschnitt beträgt dieses in Kurdistan lediglich 300 Dollar. Die wenigen Kapitaleigner bringen ihr Kapital außerhalb Kurdistans in Sicherheit.

Einen Schuldvorwurf an die Staat und Regierung der Türkei weist die Studie allerdings zurück. Von einer „Kolonialisierung des Ostens“ zu sprechen, sei eine Beschuldigung der Radikalen. Versäumnisse in dieser Region seien nicht ethnisch motiviert. Vielmehr hätten (staatstreue) örtliche Autoritäten (z. B. Aghas, Scheichs und Stammesführer) eine fortschrittliche Entwicklung behindert, was Ankara jedoch nicht besonders gestört habe… Vor diesem ökonomischen Hintergrund haben viele Kurdistan den Rücken gekehrt. 40 % gaben Arbeitslosigkeit als Grund an, 10 % verwiesen auf „staatlichen Druck“ und 16 % auf „Druck“ wegen der PKK. (Diese Angaben stimmen mit den Ergebnissen der IHD-Studie nicht überein. Bei den Fluchtursachen gaben nach dieser Studie etwa 13 % wirtschaftliche Gründe an.)

Unter den Flüchtlingen kamen die meisten aus Mardin (26 %), gefolgt von Batman (15,4 %), Diyarbakir (14 %) und Siirt (12,1 %). 35,2 % waren in den Jahren 1982 bis 1989 und 38,5 % in den Jahren 1990 bis Januar 1995 gekommen, also steigende Tendenz. Insgesamt waren 73,4 % ausgewandert, nachdem die militärischen Auseinandersetzungen begonnen hatten.
Auf die Frage „Warum sind Sie hierher gekommen“, gaben 33,1 % an, in dem Fluchtort Verwandte zu besitzen, 37,8 % wegen der Hoffnung auf Arbeit. Am ersten Ort der Flucht waren 29,1 % Tagelöhner, 19,1 % Straßenhändler, 11 % selbständig, 6,3 % Lastträger, 22 % machten verschiedene Arbeiten und 12,5 % gaben an, arbeitslos zu sein.

Diejenigen, die in einer zweiten Flucht an einen weiteren Ort gegangen waren, gaben als Grund dafür zu 42,4 % Arbeitslosigkeit, zu 15,1 % Druck seitens der „Organisation“ (PKK) und zu 3 % staatlichen Druck an. Die Wahl des neuen Ortes war zu 50 % wegen Arbeitsmöglichkeit und zu 22 % wegen der Nähe zu Verwandten erfolgt. Nach der Flucht berichteten 68 % der Befragten, daß die Eltern die Kontrolle über die Jugendlichen verloren hätten.

Eine Mehrheit sprach sich für Schulunterricht in kurdischer Sprache aus. 63 % würden die Einführung von Kurdisch als zweite gleichberechtigte Sprache neben Türkisch befürworten. Aus Gründen des beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommens hielten die meisten jedoch eine strikt kurdischsprachige Ausbildung für nicht hilfreich.

Etwa 65 % der Bewohner Südostens gaben an, dass sie zu Hause Kurdisch, 15,1 % Türkisch, 14,2 % beides und 5,6 % eine sonstige Sprache sprechen. In der Öffentlichkeit allerdings würden nur etwa 21 % Kurdisch, 23 % Türkisch, 52,5 % beides und 3 % eine sonstige Sprache sprechen. Auf die Frage nach der Muttersprache gaben 89,9 % Kurdisch, 6 % Zaza, 3,5 % Arabisch und 0,7 % Türkisch an.
97 % bezeichneten sich als Moslems, 1,4 % als Atheisten und 0,2 % als Christen. Unter den Moslems gaben 83,3 % an, Schafi zu sein, 13,5 % Hanafiten und 1,7 % Alewiten.

Unter den Befragten lebten in einem Haushalt zusammen:

  • bis zu 4 Personen: 12,3 %
  • 5-10 Personen: 58,6 %
  • über 10 Personen: 29,1 %

Zum Zeitpunkt der Untersuchung lasen 35 % die inzwischen verbotene prokurdische Zeitung „Özgür Ülke“ (selbst unter den Analphabeten kauften 17,7 % diese Zeitung). 89 % meinten, die Türkische Republik bedürfe einer anderer politischen Struktur, als sie Staatsgründer Kemal Atatürk vor über 70 Jahren mit dem Modell des Einheitsstaates durchgesetzt hatte.

Bemerkenswert ist, dass sich die Mehrheit der Befragten dafür ausspricht, den Kurden mehr Rechte zu gewähren. 75 % verlangten größere Selbständigkeit auf kommunaler und regionaler Ebene. 11 % forderten einen eigenen kurdischen Staat; von denjenigen, die einen politischen Dialog des türkischen Staates mit der PKK wünschten, waren es 25 %. Die Mehrheit derjenigen, die einen eigenen Staat forderten, war in den Fluchtorten zu finden.

Auf die Frage, was die Amtssprache sein sollte, antworten 32,2 % mit „Türkisch“, 5 % mit „Kurdisch“ und 63 % mit „Türkisch/Kurdisch“. 60,1 % wünschten, dass jede ethnische Gruppe in ihrer Sprache unterrichtet wird. 68,8 % befürworteten Publikationen in der eigenen Sprache.

Autonomie stellten sich 11 % vor, von ihnen hielten jedoch nur etwa 3,6 % deren Verwirklichung für realistisch. Langfristig halten die meisten eine bundesstaatliche Föderation für das geeignetste Modell.
Über die Ziele der PKK herrscht bei den Befragten keine Einigkeit: 38 % gaben „kulturelle und politische Rechte“ an, 15,3 % „einen unabhängigen Staat“; 4 % nannten beides. Auf die Frage, welche dieser Ziele die PKK verwirklichen kann, antworteten 14 % „sämtliche dieser Ziele“; 22,4 % „kann kulturelle und politische Ziele durchsetzen“; 3,6 % „unabhängigen Staat“; 39,7 % beantworteten diese Frage gar nicht.

Dazu, „was die PKK bewirke“, meinten 34,3 % derjenigen, welche die Frage überhaupt beantworteten (72,2 % wagten keine Antwort!), die Aktivitäten der PKK machten vor allem im Ausland auf die Kurdenfrage aufmerksam.

76,8 % der Befragen meinten, dass der Staat mit seiner jetzigen Politik gegen die PKK nicht erfolgreich sein werde. Auf die Frage, warum der türkische Staat bisher im Kampf gegen die PKK nicht erfolgreich gewesen sei, antworteten 16,8 %, die „PKK nähre sich von der Unterstützung der Bevölkerung“.
Nach Auffassung von 14,9 % der Befragten ist der Misserfolg des Staates darauf zurückzuführen, dass er „zu viel Druck“ ausübe. 32,6 % verweigerten die Antwort. 30,5 % gaben eine Kombination von Antworten. Es gab hierbei eine ganze Reihe von Antwortmöglichkeiten. Neben dem zu hohen Druck des Staates war eine andere Alternative „der Staat ist nicht demokratisch, wendet so viel Terror an wie die Organisation“. Für eine Kombination dieser zwei Alternativen entschieden sich z.B. 7,1 %.

Sehr bedeckt (über 65 % Nicht-Antworten!) hielten sich die Befragten auch mit Auskünften darüber, ob sie Familienangehörige bei der PKK hätten. Immerhin gaben 13,4 % dies zu. Darüber hinaus gaben 10,5 % an, Freunde/Landsleute bei der Organisation zu haben, 1,6 % nannten „Bruder“, 9,3 % „sonstige“.
46,7 % begrüßten die Praktiken der PKK, während 53,3 % sie ablehnten. Die knappe Hälfte der Befragten verlangte, dass die PKK die Waffen niederlegt.

Bemerkenswert ist, dass offenbar die PKK in den westlichen Städten, in denen vertriebene Kurden leben, größere Unterstützung genießt als in ihrer Heimatregion. In den Fluchtorten ist in Adana die Unterstützung am höchsten. Unter den Provinzen im Osten liegt die Zahl der Befürworten in Diyarbakir am höchsten. Insbesondere bei Jugendlichen findet die Guerilla wegen staatlicher Rezession und wirtschaftlicher Unterentwicklung in der Region Anhänger. Die PKK ist für viele Kurden derzeit die einzige Stimme, die ihre Forderungen hörbar werden lässt.

Auf die Frage „Wie kann die Regierung den inneren Frieden sichern“ antworteten 5,5 % „Gesetze ändern“, 15,1 % „kurdische Realität anerkennen“, 9,8 % „diese Regierung nicht“, 60,3 % gaben sonstige/kombinierte Antworten, 9,3 % äußerten sich nicht.

Die Frage, ob an eine Rückkehr gedacht sei, wenn Frieden und Sicherheit gewährleistet und die Lage sich gebessert habe, beantworteten in Adana 77 %, in Mersin 83,8 % und in Antalya 70,4 % mit Ja.

Auf die Frage „Wie definieren Sie sich?“ gab es folgende Antworten:

  • Sippe: 3,2 %
  • ethnisch: 40,3 %
  • national: 22,3 %
  • Glaube: 11,3 %
  • sonst./komb. Antworten: 18,0 %

Weitere 4,9 % definierten sich als Mensch. Der Anteil derjenigen, die sich nach ethnischer Herkunft definierten, lag in den Fluchtorten höher als im Siedlungsgebiet.

Die Mehrheit der Kurden betrachtet den Konflikt in Kurdistan als ein „Problem der verweigerten Identität“, so die Schlussfolgerung der Autoren:

„Für die Identitätsfrage in der türkischen Republik gibt es in letzter Zeit zwei Hauptgründe:

1. Die Regierung der Republik und das Nations-/Staats-Gebilde, auf dem sie fußt, hat Schwierigkeiten, viele Erwartungen des Volkes zu erfüllen. Ein großer Teil der Bevölkerung bringt seinen Unmut in Formen wie Glauben, Ethnizität und Klasse zum Ausdruck.
2. Die Identität, die der türkische Staat seiner Gesellschaft zur Verfügung stellte, hat sich nicht auf die politische Ober-Identität beschränkt, sondern auch den kulturellen und sozialen Bereich mit einschließen wollen.

Der ‚kurdische Nationalismus‘ ist sowohl nach den Ergebnissen der Feldstudie als auch den Analysen der Ansichten der Meinungsträger eine ‚Erfindung‘ der Intellektuellen… Der Durchschnittsmensch kämpft für das Hier und Heute.“

Türkische Politiker ereifern sich

Nach Vorstellung der Studie standen türkische Politiker kopf. Auch die Strafverfolgungsbehörden traten auf den Plan. Das Staatssicherheitsgericht Ankara prüft bereits, ob sich die Verantwortlichen der Studie wegen „separatistischer Propaganda“ nach Art. 8 des Anti-Terrror-Gesetzes verantworten müssen. Dieser Gummiparagraph verbietet „Propaganda gegen die Einheit des Staates“. Staatsanwalt Nuh Mete Yüksel erklärte vorab, schon Forderungen nach einer bundesstaatlichen Lösung und einer offiziellen Zulassung der kurdischen Sprache könnten den Tatbestand separatistischer Propaganda erfüllen.

Staatsminister Imren Aykut warf der Studie vor, sie biete im Gewande der Wissenschaft ein öffentliches Forum für alle Ziele der PKK. Nahit Mentese, Innenminister (Abgeordneter der DYP), fühlte sich genötigt, erneut zu betonen, dass es in der Türkei kein ethnisches und kein kurdisches Problem gäbe. Eine Umwandlung der Türkei in einen Bundesstaat lehnte er ab.

Mesut Yilmaz, Vorsitzender der Mutterlandspartei (ANAP) verdächtigte Ministerpräsidentin Ciller, ihrem inoffiziellen Berater Yalim Erez den Auftrag zu dieser Studie erteilt zu haben, um die Ergebnisse zum Vorwand für eine Änderung der Kurdenpolitik zu nehmen. Ministerpräsidentin Ciller dementierte; die Regierung habe ein solches Unternehmen nicht gefördert.

Schlicht als „Müll“ bezeichnete Alparslan Türkes, Vorsitzender der MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung, das ca. 170 Seiten umfassende Dokument.

Auf der anderen Seite kritisieren auch PKK-nahe Kreise scharf die vorliegende Studie: sie sei regierungsfreundlich und halbherzig und gebe die kurdische Realität nur geschminkt wieder.
Andere Stimmen aus dem prokurdischen Lager plädieren dafür, sich einer inhaltlichen Auseinandersetzung anzunehmen:

Murat Bozlak, Vorsitzender der Demokratischen Partei des Volkes (HADEP): „Die Studie hat gezeigt, dass die Separatismusängste der Regierung unbegründet sind.“

Der Vorstand der Partei für Demokratie und Erneuerung (DDP):
„Die TOBB-Studie hat unsere in der Vergangenheit und heute vertretenen Thesen bestätigt.“

Cem Boyner, Vorsitzender der Neuen Demokratie-Bewegung:
„In einem Vergleich der westlichen Türkei mit der Ausnahmezustandsregion wird deutlich, daß es keine Einheitlichkeit der Justiz, des Bildungswesen und der Verwaltung gibt. Die Türkei erlebt heute de facto eine Sezession. Die größte Kraft, die einen föderative Lösung unumgänglich macht, ist der türkischer Staat in Ankara selbst. Fast bestehen in der Realität zwei verschiedene Staaten. Wir sind der Überzeugung, dass dieser Zustand behoben werden muss.“

Refik Baydur, Vorsitzender der Vereinigung der Arbeitgebergewerkschaften, kündigte an, die sich auf die Ergebnisse der Studie stützenden Meinungen in Form eines Buches zu veröffentlichen. „Die im Süden und Südosten des Landes geschlagene Wunde hat ihren sozialen und wirtschaftlichen Preis.“ Es sei wichtig, diese Wunde aus der Nähe zu inspizieren.

Sakip Sabanci, einer der reichsten Unternehmer der Türkei, der zusammen mit einer Delegation der Istanbuler Industrie- und Handelskammer (ISO) die kurdische Stadt Diyarbakir besuchte, sagte:
„Mit der bisherigen Politik kann man die Probleme von Ost- und Südostanatolien nicht lösen. Eine isolierte wirtschaftliche Entwicklungspolitik dort reicht ebenfalls nicht.“
Bereits aufgrund dieser Äußerung wurde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet.

Inzwischen bereitet sich eine Delegation des mächtigen türkischen Industriellen- und Arbeitgebervereins (TÜSIAD) auf einen Besuch in den Kurdengebieten vor. TÜSIAD möchte mit ernsthaften Projekten in die Region gehen und die lokalen Investoren unterstützen.

Die Reaktionen der meisten türkischen Parteien und offiziellen Stellen zeigen, dass ein Umdenken in der Kurdenfrage vielen Türken noch schwer fällt. Es ist beachtenswert, dass TOBB es trotz aller Hindernisse geschafft hat, die Diskussion über dieses unbeliebte Thema der Türkei zu eröffnen. Türkische Wirtschaftskreise scheinen zunehmend eine realistischere Position zur Kurdenfrage einzunehmen als die Militärs oder die meisten der Politiker. Die Reaktionen auf die Untersuchung von TOBB machen erneut deutlich, wo in der Türkei die Fronten zwischen Demokratie und dem Rückfall in finsterste Reaktion verlaufen. Die Studie selbst ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem politischen Dialog.

Hierzu Dogu Ergil: „Wir haben diese Studie durchgeführt, damit das Land sich nicht teilt, damit die vorhandenen Unterschiede die Teilung nicht verursachen, damit wir uns gegenseitig verstehen.“ Wie die Umfrageergebnisse gezeigt haben, möchte die Mehrheit der Befragten einen föderativen Bundesstaat. Dies widerlegt die Argumentation der Hardliner, dass die Kurden „die Türkei spalten wollen“.

Prof. Dogu Ergil gehört zu den Unterzeichnern eines Aufrufes, in der kurdischen Region für drei Monate die Waffen ruhen zu lassen. Darin wird darauf aufmerksam gemacht, dass dem Krieg im Südosten viele Unschuldige zum Opfer gefallen sind und der Türkei in diesem Konflikt wirtschaftlich, politisch und moralisch großer Schaden zugefügt wurde. Die Gewährung von kulturellen Rechten für die kurdische Bevölkerung könnte den Reformwillen der türkischen Regierung unter Beweis stellen. „Diejenigen, die auf Rache schwören, treiben diesen schmutzigen Krieg voran. Wir sehen, dass die Entwicklungen voranschreiten zu einem nationalen Selbstmord.“ Kann der „kranke Mann am Bosporus“ noch gerettet werden?

Kurdistan heute Nr. 16, Oktober/November 1995

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