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Kurden in Deutschland – ein polizeiliches Problem?

Lotte Incesu und Metin Incesu

In den Tagen um das kurdische Neujahrsfest NEWROZ haben gewalttätige Ausschreitungen radikalisierter Kurden wieder einmal Negativschlagzeilen geliefert und den berechtigten kurdischen Anliegen geschadet. Bilder von mit Schlagstöcken um sich prügelnden Kurden und blutenden Polizeibeamten liefen durch alle Medien und lösen zu Recht Abscheu und allgemeines Kopfschütteln aus. „Terror in Deutschland“, „Kurdenkrawalle“, so titelt nicht nur die deutsche Sensationspresse. Der Ansehensverlust ist beträchtlich. Wie es aussieht, ist als Folge dieser Ereignisse die Sympathie für Kurden bei den meisten Deutschen erst einmal dahin.

Die Stimmung ist aufgeheizt, „die Volksseele kocht“, ein regelrechtes Klima der Hysterie ist entstanden. Das Schreckgespenst „kurdischer Bürgerkrieg in Deutschland“ geht um. Entsprechend laut sind die „Kurden raus“-Chöre an den deutschen Stammtischen. Es werden Ängste geschürt und ausländerfeindliche Ressentiments bedient. „Die Kurden“ wurden zum Wahlkampfthema. Gezielt wurde der Bevölkerung der unzutreffende Eindruck vermittelt, als geschehe den Gewalttätern gar nichts und als könnten diese hier ungehindert Straftaten begehen. Für die Koalitionsfraktion bot es sich geradezu an, ein verzerrtes „Kurdenbild“, nämlich Kurde = Gewalttäter, in der Öffentlichkeit zu pflegen, um damit Stimmen aus dem rechten Lager zu fangen – höchst unheilvoll für die Gesamtheit der hier lebenden Kurdinnen und Kurden! Forderungen nach einem generellen Demonstrationsverbot für Kurden wurden laut, und am Tag des NEWROZ-Festes gab es praktisch flächendeckend Versammlungsverbote, die auch friedliebende Kurdinnen und Kurden und ihre Vereine trafen. Jahrelang ist NEWROZ in der Türkei ein verbotenes Fest gewesen, für die Kurden hat es identitätsstiftende Bedeutung. Fatalerweise wurde so die in Deutschland lebende kurdische Minderheit daran gehindert, ihre Kultur zu pflegen. Das von Bundesaußenminister Kinkel in unverantwortlicher Weise aufgebauschte Gerücht von Morddrohungen gegen deutsche Politiker hat zu weiterer Verunsicherung in der Bevölkerung beigetragen und einer Stigmatisierung der hier lebenden Kurden Vorschub geleistet.

In der Öffentlichkeit wird nicht mehr wahrgenommen, dass die überwältigende Mehrzahl kurdischer Bürgerinnen und Bürger seit Jahren und Jahrzehnten friedlich und rechtstreu in der Bundesrepublik lebt und es eine Vielzahl von kurdischen Vereinen, Organisationen und Einzelpersonen gibt, die gewaltlos für ihre Interessen, für Demokratie und Menschenrechte eintreten. Für das politische Klima und die gesellschaftliche und soziale Integration der Kurden in Deutschland und ein konfliktfreies Zusammenleben ist dies eine verhängnisvolle Entwicklung.

Dabei ist Sachlichkeit nötiger denn je. All denen, die dramatisierend von „Bürgerkrieg“ sprechen, sei empfohlen, auf dem Teppich zu bleiben. Wie ein echter Bürgerkrieg aussieht, das kann man gegenwärtig am besten in Kurdistan selbst beobachten. Immer erbitterter wird dort der Krieg gegen die Kurden geführt. Nach dem Motto, „um den Fisch zu fangen, müssen wir erst das Meer austrocknen“, richten sich die Aktionen der türkischen Sicherheitskräfte zunehmend gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Kurdische Dörfer werden bombardiert und zerstört. Aber auch in den Städten der Westtürkei sind extralegale Hinrichtungen von kurdischen Politikern, Unternehmern und prokurdischen Journalisten an der Tagesordnung.

Allerdings sind die Zeiten vorbei, wo es so schien, als ginge uns das alles in Deutschland wenig an, seien die Probleme weit weg, „dort, ferne hinten in der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen.“ Die Bundesrepublik Deutschland ist von der Kurdenfrage in der Türkei in verschiedener Hinsicht berührt:

Die Türkei ist NATO-Mitglied, Deutschland ist größter Handelspartner und zweitgrößter Waffenlieferant der Türkei, und in keinem anderen Land leben so viele türkische und kurdische Immigranten. Es gibt enge Beziehungen zwischen den beiden Ländern, eine Zusammenarbeit in sog. Sicherheitsfragen, vom Datenaustausch in der sog. internationalen Terrorismusbekämpfung bis hin zur Ausrüstung und Schulung türkischer Polizeibeamter. Nicht zuletzt die Waffenlieferungen an die Türkei haben der Bundesrepublik zu Recht den Vorwurf eingetragen, eine Mitschuld zu tragen an der Verfolgung der Kurden in der Türkei.

Solange die Verhältnisse in Kurdistan derart unerträglich sind, wird dies auch Rückwirkungen auf Deutschland haben. Die meisten hier lebenden Kurden haben noch verwandtschaftliche Beziehungen in der Türkei. Inhaftierungen oder Vertreibungen lösen daher unmittelbare persönliche Betroffenheit aus.

In der Bundesrepublik leben über eine halbe Million Kurdinnen und Kurden, die meisten aus der Türkei. Die kurdische Bevölkerungsgruppe, die in Deutschland lange nicht einmal als gesonderte ethnische Gruppe wahrgenommen wurde, hat inzwischen an Selbstbewusstsein gewonnen. Sie identifiziert sich mit der kurdischen Kultur und den Forderungen der kurdischen Freiheitsbewegung. Die kurdischen Immigranten und Flüchtlinge in Deutschland erfahren in mehrfacher Hinsicht Diskriminierung und schwierige Lebensbedingungen, einerseits als „Ausländer“, andererseits werden sie nicht als eigenständige Volksgruppe anerkannt und sind so selbst im Exil dem türkischen Assimilierungsdruck ausgesetzt. So werden bisher in der Sozialarbeit Kurden vernachlässigt, weil sie als nationale Minderheit nicht wahrgenommen werden. Sie können z. B. sozialpädagogische Angebote nur nutzen, wenn sie als „Türken“ auftreten. In den Beratungsstellen hängen oft türkische Fahnen und Bilder von Atatürk und nicht wenige türkische Sozialberaterinnen und -berater lassen die kurdische Klientel Arroganz und nationalistische Ressentiments spüren.

Versuche der Kurden, eine Gleichstellung mit anderen Immigrantengruppen zu erreichen, stießen bisher auf Granit (vgl. hierzu Metin Incesu, „Förderung von Aktivitäten kurdischer Gruppierungen auf Bundesebene?“, Kurdistan heute Nr.15, Juli/Aug. 1995, S.12 ff.).

Viele Kurdinnen und Kurden fühlen sich hier mit ihren Sorgen und ihrer Verbitterung allein gelassen. Solange sie friedlich die Lage in ihrer Heimat thematisieren, ist dies der deutschen Öffentlichkeit jedoch keine Schlagzeile wert. Die Tatsache der deutschen Waffenlieferungen an die Türkei, das PKK-Verbot, Demonstrationsverbote sowie die faktische Behinderung auch der Arbeit demokratischer kurdischer Vereine in der Bundesrepublik ist in dieser Situation ein fatales Signal, das Radikalisierungstendenzen begünstigt und die Polarisierung zwischen Kurden, Türken und Deutschen fördert. Auf fruchtbaren Boden stößt so auch die Propaganda von der „Bürgerkriegspartei Deutschland“ und „dem Feind Nr. 2 nach der Türkei“. Diese Argumentation, welche implizit ein Eigeninteresse der deutschen Seite an der Unterdrückung der Kurden unterstellt, ist bei aller berechtigten Kritik an der deutschen Türkei-Politik jedoch maßlos überspitzt.

Die Härte, mit der sogar gegen Bagatellverstöße vorgegangen wird, wird von vielen Kurdinnen und Kurden als Angriff auf ihre legitimen Interessen wahrgenommen. Sie fühlen sich ausgegrenzt, was dann gerade zur Solidarisierung mit der verbotenen PKK führt. Ohne das Demonstrationsverbot wäre es wahrscheinlich gar nicht zu den Autobahnblockaden und Gewaltausbrüchen gekommen. Erst seit dem sog. „PKK-Verbot“ ist es in den vergangenen Jahren während der NEWROZ-Zeit zu Gewalttätigkeiten gekommen.

Mit einem Konfrontationskurs geht man gerade der Eskalationsstrategie von Extremisten in die Falle, und daraus entwickelt sich ein gefährlicher Teufelskreis. Die Kurdenfrage wird von den deutschen Politikern bisher hauptsächlich als polizeiliches Problem wahrgenommen. Jetzt nach den gewalttätigen Kurdendemonstrationen will man um jeden Preis Handlungsfähigkeit zeigen. Doch die reflexartig aufgenommene Diskussion um die Verschärfung des Ausländer- und Demonstrationsrechts lenkt von den praktischen Fragestellungen und Problemen ab. Das kurdische Problem lässt sich nicht abschieben, und es lässt sich auch nicht verbieten.

Mit dem jetzt von der Bundesregierung vorgelegten „Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung gewalttätiger Ausschreitungen von Ausländern“ wird die Gunst der Stunde genutzt, bereits seit längerem existierende Pläne zur Verschärfung des Ausländerrechts umsetzen zu können.

Schon am 19.3.96 äußerte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg van Essen, in einem Gespräch mit ap: „Die FDP hat sich schon vor Wochen (!!!) mit dem Koalitionspartner auf eine Novellierung des Ausländergesetzes und eine deutliche Verschärfung der Ausweisungsvorschriften für gewalttätige Ausländer verständigt: Wer in Zukunft wegen solcher kollektiver Ausschreitungen (schwerer Landfriedensbruch, § 125 a StGB) rechtskräftig zu mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird, ist zwingend auszuweisen.“

Demgegenüber hat das Bundeskabinett allerdings „nur“ die Absenkung der Strafmaße auf einheitlich drei Jahre bei der Ist-Ausweisung beschlossen. Auch sollen Ausweisungen von hier geborenen Ausländern, Asylberechtigten und Ausländern mit deutschen Ehepartnern erleichtert werden.

Verschärft werden soll ferner der Straftatbestand des besonders schweren Landfriedensbruchs. „Besonders schwerer Landfriedensbruch“ soll künftig bereits dann vorliegen, wenn ein friedlicher (auch deutscher) Teilnehmer einer verbotenen Demonstration, bei der es teilweise zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt, Parolen gerufen hat. Gewalttätige und Nichtgewalttätige, die nur einem Platzverweis nicht (oder nicht rechtzeitig) Folge leisteten, werden so in einen Topf geworfen. Dies ist ein Angriff auf die Demonstrationsfreiheit, der alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes betrifft. Auch hier werden „die Kurden“ von Law-and-Order-Politikern der Union für ihre rechtspolitischen Forderungen instrumentalisiert.

Wie sehr dieser Maßnahmenkatalog ins Leere läuft, zeigen gerade die jüngsten Ausschreitungen. Die schlimmsten gab es an den Grenzen zu Belgien und Holland. (Übrigens hatte die Bundesregierung lediglich 30 BGS-Beamte aufgeboten, um die Grenze zu den Niederlanden zu sichern. Den „schwarzen Peter“ für die Ausschreitungen bekam dann anschließend der sozialdemokratische NRW-Innenminister Kniola in die Schuhe geschoben.) Diese Kurden aber (womöglich mit holländischem oder belgischem Pass) können die deutschen Behörden gar nicht in die Türkei abschieben. Die meisten haben Deutschland ohnehin längst wieder verlassen.

Die Rädelsführer gewalttätiger Ausschreitungen wird die Bundesregierung so kaum treffen. Deren Taktik ist es doch, bewusst Frauen und Kinder in die ersten Kampfreihen zu schicken. Und Jugendliche, die sich aus Unbesonnenheit in Auseinandersetzungen haben verstricken lassen, werden bei einer verschärften Kriminalisierung nur noch stärker an die PKK geschmiedet.

Eine Bestrafung der Gewalttaten muss erfolgen, aber hier in Deutschland. Entschlossene Fanatiker wird die Bundesregierung nicht mit der Abschiebung in den Foltertod schrecken können. Es werden nur Märtyrer geschaffen und Solidarisierungseffekte bewirkt. Mit derartigen Abschiebungsankündigungen werden außerdem in der deutschen Bevölkerung falsche Erwartungen erweckt. Sowieso geht in der Diskussion alles wild durcheinander. So entsteht der Eindruck, als garantiere nur eine Ausweisung und Abschiebung, dass die Gewalttäter auch tatsächlich verfolgt würden. Dass eine Ausweisung nicht zwangsläufig auch eine Abschiebung zur Folge hat, wird ebenfalls nicht mehr vermittelt. Auch die Bundesregierung weiß, dass die Europäische Menschenrechtskonvention, aber auch das Grundgesetz, eine Abschiebung verbieten, wenn Folter oder Todesstrafe droht. Der Europäischen Kommission für Menschenrechte liegen derzeit über tausend Menschenrechtsbeschwerden vor. Gerade aber solche PKK-Anhänger, die sich durch Gewalttaten hervorgetan haben, werden in der Türkei mit Folter zu rechnen haben müssen. Unmittelbar nach der Demonstration in Dortmund meldete die türkische Nachrichtenagentur „Anadolu“, Teilnehmer an PKK-nahen Demonstrationen im Ausland würden wegen Mitgliedschaft in der PKK oder deren Unterstützung vor Staatssicherheitsgerichten angeklagt. Vor diesen Sondergerichten haben die Angeklagten kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten.

Was soll also mit dieser Abschiebediskussion bezweckt werden? Wollen sich die Politiker tagespolitisch mit Gesetzesaktionismus und Scheindiskussionen als handlungsfähig profilieren? Oder soll in Deutschland eine Akzeptanz auch für Abschiebungen bei drohender Folter gefördert werden? Dies hätte Auswirkungen, die weit über den Anlass hinausgehen und den Boden des Rechtsstaates verlassen. Nach dem Motto „wer auf deutsche Polizisten einprügelt, hat nichts anderes verdient“, wird schon bedenklich in diese Richtung argumentiert. Erschreckend ist das Ergebnis einer emnid-Umfrage, wonach über 50 % der Befragten vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse eine Abschiebung kurdischer Gewalttäter sogar befürworteten, wenn diesen im Heimatland Folter drohe. Zur Forderung nach der Todesstrafe ist es da nur noch ein kleiner Schritt.

Gleichzeitig mahnt die Bundesregierung die konsequentere Umsetzung der deutsch-türkischen Absprache vom 10.3.95 über abzuschiebende abgelehnte Asylbewerber an. Nicht umsonst fand diese Vereinbarung nur wenig Anwendung, denn sie hat sich als kaum praktikabel erwiesen. Und nach wie vor bestehen aus menschenrechtlicher Sicht erhebliche Bedenken hiergegen. Ein zugesicherter Ausschluss von staatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen reicht nicht, solange Verschwindenlassen und Morde durch „unbekannte Täter“ in der Türkei auf der Tagesordnung stehen.

Verschärft werden soll nach dem Willen der Bundesregierung des Weiteren das politische Betätigungsverbot. Bereits ein erstmaliger Verstoß gegen ein politisches Betätigungsverbot soll künftig eine Straftat darstellen. Ein solches Betätigungsverbot kann nach geltendem Recht schon dann verhängt werden, wenn eine politische Äußerung des Ausländers außenpolitischen „Interessen der Bundesrepublik zuwiderlaufen kann“. Eine politische Betätigung zugunsten der PKK – und sei es nur die Verwendung eines Emblems – ist ohnehin verboten.

Die Bundesregierung fordert die „konsequente Durchsetzung der vereinsrechtlichen Verbotsmaßnahmen“ und des politischen Betätigungsverbotes. Doch schon bisher hat dieser Weg in die Sackgasse geführt. Gerade das starre „PKK-Verbot“ hat in Deutschland die bestehenden Probleme verschärft. Dadurch ist der Spielraum für deutsche Behörden eingeengt worden. Nichts ist psychologisch ungünstiger als eine Machtprobe zwischen Polizei und Bundesgrenzschutz einerseits und Anhängern der verbotenen PKK andererseits, womöglich nur wegen ein paar läppischer PKK-Embleme, die niemandem wehtun. Das Vorgehen gegen bloße Symbole hat ohnehin für viele Kurden den Geruch des Gesinnungsstrafrechtes. Denn was dem einen sein Kruzifix, ist dem anderen sein PKK-Emblem. Solche Situationen sind nur eskalationsfördernd. Die Bundesregierung läuft Gefahr, damit im kleinen die Fehler zu wiederholen, welche ihr die türkischen Amtskollegen vorexerziert haben: Gerade die unmenschliche Härte des türkischen Militärs und die alltägliche Unterdrückung der kurdischen Zivilbevölkerung haben die PKK stark gemacht. Ein Wettbewerb um die schärferen Gesetze und Polizeieinsätze treibt der PKK nur neue Anhänger zu und heizt die Gewaltspirale weiter an.

Darüber hinaus hat das PKK-Verbot auch die Arbeit von demokratischen kurdischen Vereinen und Organisationen beeinträchtigt, denn vor dem Verbotshintergrund ist die Neigung groß, alle Kurden über einen Kamm zu scheren. So kommt es bei Behörden und in der Öffentlichkeit immer wieder zu Berührungsängsten und Abwehrverhalten und damit zu einer Politik der Ausgrenzung.
Dass nunmehr aus formalen Gründen – wegen mangelnder Bundeszuständigkeit – Bundesinnenminister Kanther das Verbot gegen 20 lokale kurdische Vereine aufheben musste, gibt den Länderinnenministern die Chance, mit mehr Augenmaß zu agieren.

Wenn die Bundesregierung jetzt sogar dazu aufruft, auch die „Busunternehmen bei Beförderung gewalttätiger Demonstrationen“ zu belangen, vergiftet sie das politische Klima in der Bundesrepublik und leistet ausländerfeindlichen Tendenzen Vorschub. Mehr denn je gerät jeder Kurde in die Beweislast, kein Terrorist zu sein. Schon jetzt wird von Fällen berichtet, wo unbescholtene kurdische Bürger Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche nur deswegen haben, weil sie Kurden sind. So verweigerte in Köln ein Vermieter die Unterschrift unter einen Mietvertrag, nachdem er erfahren hatte, dass sein Vertragspartner Kurde war. Auch scheiterten Versuche, ein Busunternehmen zu finden, das friedliche Kurden zu einer genehmigten NEWROZ-Veranstaltung in Würzburg transportieren sollte. Unter diesen Rahmenbedingungen wird der Spielraum für gemäßigte und gesprächsbereite Kräfte geringer und ebenso das Verständnis in der deutschen Öffentlichkeit für die verschiedenen Dimensionen der Kurdenfrage und die berechtigten Forderungen der Kurden.

Die „liberale Handschrift“ des FDP-Justizministers ist nicht einmal zwischen den Zeilen dieses polizeistaatlichen „Horror-Kataloges“ zu bemerken. Der Verzicht auf die Möglichkeit einer Ausweisung schon ohne vorangegangene Verurteilung, wie sie ursprünglich die Union gefordert hatte, ist nicht als Erfolg von Schmidt-Jortzig zu werten. Die Bundesregierung stellt sich vielmehr auf den Standpunkt, dass dies auch schon nach geltendem Recht möglich ist, und fordert die Ausländerbehörden auf, hiervon „verstärkt Gebrauch zu machen“. Die Linie, „kurzen Prozess zu machen“, die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung zu ignorieren und in ein Land wie die Türkei abzuschieben, das für seine Folterpraxis berüchtigt ist, stellt alle liberalen Grundsätze auf den Kopf.

Wie unseriös das Maßnahmenpaket der Bundesregierung ist, zeigt z.B. die angekündigte Forcierung der Einführung einer Hauptverhandlungshaft. Dieser ohnehin verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetzesvorschlag, der bereits seit Ende 1995 dem Deutschen Bundestag vorliegt, kann in diesem Zusammenhang wahrhaftig nur als ein Gesetzesplacebo zur Beruhigung der Bevölkerung dienen, denn er betrifft gerade nicht schwerste Gewalttaten, sondern erstreckt sich auf Bagatelldelikte.

Ob in der Türkei oder in Deutschland – falsch ist es, die Kurdenfrage als ein polizeiliches Problem zu behandeln. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Wurzel und Lösung dieses Problems in der Türkei und den anderen Teilungsstaaten liegt. Aber auch in Deutschland hat es über lange Jahre hinweg Versäumnisse im Umgang mit der kurdischen Minderheit hier gegeben. Jahrelang fanden Kurden mit ihren friedlich vorgetragenen Anliegen kaum Gehör. Gewaltaktionen nimmt die deutsche Öffentlichkeit wahr, friedlichen Protest aber nicht. Häufig genug wurden kurdische Belange mit Rücksicht auf den Bündnispartner Türkei unter den Tisch gekehrt. Bereits das Auftreten von Kurden als eigenständige Volksgruppe zog hysterische Proteste seitens der türkischen Lobby nach sich, der deutsche Stellen nur allzu oft nachgegeben haben. Was wurde denn getan, um die kulturelle Identität der in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden zu achten und zu gewährleisten?

Überhaupt ist die Integration ausländischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland nur teilweise gelungen. Von einem wirklich gleichberechtigten Miteinander der hier lebenden Bürgerinnen und Bürger ungeachtet ihrer Herkunft kann man kaum sprechen. Besonders ausländische Jugendliche haben oft das Gefühl, „zwischen allen Stühlen zu sitzen“. Im Sinne der Herkunftskultur ihrer Eltern werden sie geprägt durch ihre Familien und durch die ethnischen Milieus, in denen diese Familien leben. Die Prägung durch die deutsche Umwelt erfolgt vornehmlich in den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und am Arbeitsplatz. Trotz beträchtlicher Integrationsschritte bleibt die Mehrzahl ihrer ethnischen Gruppe innerlich stark verbunden. Nicht wenige gar legen einen Teil der „mitgebrachten“ Normen und Werte in der als bedrohlich erlebten Fremde rigider und häufig auch restriktiver aus als im Herkunftsland, was in manchen Fällen von Unterdrückungsmaßnahmen in Familien oder der Bereitschaft zur Unterordnung unter selbsternannte Autoritäten von Abkapselung und Selbstisolierung begleitet ist. Hinzu kommen bedrückende Erfahrungen mit ausländerfeindlichen Reaktionen, Perspektivlosigkeit sowie die soziale Randlage.

Deshalb lassen sich gerade unter ausländischen Jugendlichen Radikalisierungstendenzen beobachten, und nicht nur bezogen auf die Kurden. Ein weiteres durchaus allgemeines Phänomen ist die Zunahme gewalttätiger Jugendbanden (ausländischer wie deutscher) und die gestiegene Kriminalitätsneigung.

Wie eine noch unveröffentlichte Studie des Bielefelder Jugendforschers Wilhelm Heitmeyer belegt (vgl. hierzu u. a. Der Spiegel 7/1996), ist der Einfluss der Islamisten auf türkische Jugendliche gewachsen. Dies deutet auf Defizite der Integrationspolitik in der Bundesrepublik hin, spiegelt aber auch Entwicklungen in der Türkei wieder. Es scheint so, dass derzeit in der jungen Migrantengeneration eine Rückbesinnung auf sog. traditionelle Werte, auf die heimatliche Kultur stattfindet. Es gibt einen neuen Stolz auf die eigene Abstammung. Auch ist eine größere Abgrenzung von den Deutschen zu beobachten, („der Trend der Integration geht rückwärts“) ebenso von „Landsleuten“ anderer Gesinnung, Ethnie oder Religion. So hat sich z. B. das Verhältnis zwischen hier lebenden Sunniten und Alewiten verschlechtert. Von dieser Entwicklung profitieren auch extrem nationalistische türkische Organisationen („graue Wölfe“). Gerade sie suchen Streit mit Alewiten, Kurden oder türkischen Linken. Gewalttätige Auseinandersetzungen gibt es z.B. auch zwischen oppositionellen Türken und türkischen Geheimdienstlern in Deutschland. So berichtete Der Spiegel über eine tödliche Schießerei in Germersheim, hinter der offenbar der türkische Geheimdienst stand (vgl. Der Spiegel 35/1995).

In einer Pressemitteilung der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag vom 30. März 1995 heißt es:

„Für die CSU ist eine politische Lösung des Kurdenproblems nur über den Ausbau der gesellschaftlichen Spielräume für die kulturelle Identität der Kurden und die sofortige Aufnahme von Gesprächen mit verständigungsbereiten Vertretern der kurdischen Seite denkbar.“

Diese Aussage bezieht sich auf die Türkei, könnte aber genauso gut für die Bundesrepublik zutreffen. Denn der gegenüber der Türkei eingeforderte politische Dialog mit den Kurden ist auch in der Bundesrepublik notwendig. Zudem ist es ein Widerspruch, von der Türkei die Gewährung von Minderheitenrechten gegenüber den Kurden zu fordern, selbst aber die Kurden in Deutschland de facto nicht als eine eigenständige Volksgruppe zu behandeln. Die Bundesrepublik muss der Türkei vielmehr mit gutem Beispiel vorangehen und ein innenpolitisches Signal an die hier lebenden Kurden geben, d.h.: ihre Sorgen ernst nehmen, Achtung der Identität der kurdischen Minderheit und eine aktive Kultur- und Integrationspolitik, welche auch die Förderung der demokratischen kurdischen Einrichtungen in Deutschland mit einschließt.

Klar ist aber auch: Nicht nur die Innenpolitik muss sich ändern, auch in der Außenpolitik muss es endlich einen klaren Kurs für Menschenrechte gegenüber der Türkei geben. Die Innenministerkonferenz hatte 1993 im Zusammenhang mit dem damals verhängten Verbot der PKK als Teil einer Doppelstrategie die Bundesregierung aufgefordert, „sich dafür einzusetzen, dass politische Lösungen der Kurdenfrage wieder in den Mittelpunkt des Handelns in der Türkei gestellt werden.“ Außer ein paar lauen Erklärungen ist daraus nichts gefolgt. Heute steht diese Aufgabe dringender an denn je. Viel zu lange dauert nun schon der sinnlose Krieg in Kurdistan, der zur Vertreibung von über zwei Millionen Menschen aus ihrer Heimat und der Vernichtung zahlloser kurdischer Dörfer geführt und auch die türkische Gesellschaft in eine tiefe Krise gestürzt hat. Die Beendigung der Militärhilfe an die Türkei, die Unterbindung der Waffenexporte und die Einnahme einer Vermittlerrolle für eine politische Friedensinitiative in der Türkei und Kurdistan würde die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung stärken und auch ihren eigenen Interessen dienen. Der Türkei sollte seitens der Bundesrepublik klargemacht werden, dass, wenn sie den Weg einer friedlichen politischen Lösung der Kurdenfrage gehen will, – aber nur dann! – ihr die wirtschaftliche und politische Unterstützung sicher ist.

Kurdistan heute Nr. 18, Mai/Juni 1996

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