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Türkische Arbeitgeber fordern Demokratisierung

Der folgende Text ist dem Bericht „Demokratisierungsperspektiven in der Türkei“ entnommen, den Prof. Dr. Bülent Tanör im Auftrag des Verbandes der Türkischen Industriellen und Arbeitgeber – TÜSIAD erstellt hat. Bülent Tanör unterrichtet an der Juristischen Fakultät der Universität Istanbul.

1. VI) 4) Notstand

Da es momentan nicht zur Diskussion steht, ob ein Kriegsrechtsregime ein Notstandsregime darstellt oder nicht, ist es im Prinzip sinnvoller, sich auf das Notstandsregime aus praktischer Sicht zu konzentrieren. Es versteht sich von selbst, dass hier die Probleme und die Empfehlungen zu seiner Lösung auch zum großen Teil für ein Kriegsrechtsregime Gültigkeit finden.

Fragen zur Untersuchung von Notstands- und ähnlichen Regimen werden zu einem späteren Zeitpunkt im Abschnitt „Der Rechtsstaat“ behandelt. Hier wird der Notstand nur als eine Methode der Verwaltung betrachtet, und es werden Empfehlungen zusammengefasst.

Das momentan gültige Kriegs- und Notstandsrecht ist im Prinzip das Produkt militärischer oder halbmilitärischer Regimes (12. März und 12. September). Diese Gesetzgebung ist auch nicht formbeständig. In der Notstandsregelung wurden sehr oft Änderungen vorgenommen, und meistens durch rechtskräftige Beschlüsse.

Die Tendenz dieser Änderungen ist auffallend. Die Gesetzgebung, die aufgrund der häufigen Änderungen keine Konsequenz aufweist, ist in einem Punkt durchaus konsequent. Die gemeinsame Richtung aller Änderungen ist die zu einem immer weniger demokratischen und um so unterdrückerischen Regime.

Da die Notstandsregelung immer intensiver wurde, passte sich auch die Gesetzgebung während Friedenszeiten nach und nach einer Notstandsgesetzgebung an. Das neueste Gesetz, Nr. 4178 von 29.8.1996, welches sich auf eine Änderung des Regionalen Verwaltungsgesetzes, des Anti-Terror-Gesetzes und bestimmter anderer Gesetze bezieht, ist ein typisches Beispiel für die Art und Weise, wie die Verfahrensregeln der ordnungsgemäßen Verwaltung aus der Sicht der neuen Befugnisse, die den zivilen Behörden zugesprochen wurden, nicht ordnungsgemäß gestaltet wurden. Die „Regelungen über das Zentrum zum Management der Krisen im Amt des Ministerpräsidenten“ (Gesetzesblatt, 9.1.1997-22872) ist das aktuellste Element.

Zusammenfassend kann die grundlegende Tendenz wie folgt zum Ausdruck gebracht werden: die erste Kriegsrechtsregelung war der Notstandsregelung ähnlich, und jetzt beginnt man, den Notstand als normal zu betrachten.

Nachdem wir darauf hingewiesen haben, dass der Ursprung der Unannehmlichkeiten, die dem Rechtsstaat aus den Notstandspraktiken entstanden sind, in der Verfassung zu suchen ist, und insbesondere in Unabhängigkeit der rechtskräftigen Notstandsverfügungen von jeglichem Bevollmächtigungsgesetz, können wir einige Empfehlungen zusammenfassen (Necmi Yüzbasioglu, The Problem of Turkey’s Democratisation, Istanbul University Law Faculty Publications, 1996).

Vorschlag:

(a) Art.15 der Verfassung, der dieses Sachgebiet regelt, sollte geändert werden.

Erstens, das Wort „teilweise“ sollte in dem Untertitel über „Die Aufhebung der Anwendung von Grundrechten und -freiheiten“ aufgenommen werden und zwar mit folgender Formulierung: „Die teilweise Aufhebung der Anwendung von Grundrechten und -freiheiten“, da die momentan existierende Untertitlung die Bedeutung der Fähigkeit zur vollständigen Aufhebung aller Grundrechte und -freiheiten angenommen hat. Dies kann nicht mit einem anderen Grundprinzip in Einklang gebracht werden, nämlich dem der „Mäßigung“.

Zweitens, das im Text enthaltene Wort „vollkommen“ (…) sollte aus den obengenannten Gründen gestrichen werden.

Drittens, der im letzten Satz des ersten Abschnitts des Artikels enthaltene Satz „oder für dies dürfen Maßnahmen unternommen werden, die den in der Verfassung enthaltenen Zusicherungen widersprechen“ sollte außer Kraft gesetzt werden, da diese Bestimmung eine Bedeutung hat, die die Beseitigung der gerichtlichen Aufsicht beinhaltet.

Paragraph 2 von Art.15 enthält eine Liste der Rechte, die auch in Notstandszeiten unantastbar sind. Unter Berücksichtigung der internationalen Dokumente über die Menschenrechte ist es richtig, diese Liste zu überarbeiten und zu erweitern. Unsere diesbezüglichen Kommentare werden im Abschnitt „Menschenrechte“ (Art.15) anhand verschiedener Beispiele erläutert.

(b) Unter den in Art.15 der Verfassung genannten Gründen, die die Notstandsregelung rechtfertigen, wird dem „Grund der ernsthaften wirtschaftlichen Krise“ Raum gewährt. Auf eine Art ist die Türkei ständig ein Land der ernsthaften wirtschaftlichen Krise. Im vorliegenden Fall könnte es möglich sein, dass das Land ständig unter einem Notstandsregime leben muss. Diese Bestimmung wurde in die Verfassung von 1995 (Art.23) aufgenommen, um die Weiterführung einiger Gesetze aus der Zeit vor 1960 zu sichern. Der heutige Art. 119 stammt daraus. Es wäre vorteilhaft, diese Bestimmung aus der Verfassung zu streichen und den Untertitel entsprechend abzuändern.

(c) Die Ausrufung des Notstands und Kriegsrechts darf „sechs Monate nicht überschreiten“ und jegliche Verlängerung darf „vier Monate nicht überschreiten“ (Art. 120, 121, 123). Diese Zeitabschnitte sind zu lang und haben die Aufsichtsmöglichkeiten der türkischen Nationalversammlung eingeschränkt. Es wäre vorteilhaft, diese zu kürzen. Weiterhin sollte das Recht der türkischen Nationalversammlung zur „Kürzung des Zeitabschnitts“, der für das Kriegsrecht gilt (Art. 122/1), auch öffentlich als gültig für den Notstand erklärt werden (Art. 121/1).

(d) Wir haben die Empfehlung ausgesprochen, dem Nationalen Sicherheitsrat den Status als verfassungsrechtliche Institution abzusprechen. Daraus folgt, dass der in den Art. 121 und 122 enthaltene Satz „nachdem die Meinung des Nationalen Sicherheitsrates eingeholt wurde“ aus diesen Artikeln gestrichen werden soll.

(e) Das Prinzip, dass Notstands- und Kriegsrechtszeiten durch ein Rahmengesetz geregelt werden soll, sollte Grundsatzcharakter erhalten, und die während dieser Zeit erlassenen rechtskräftigen Beschlüsse sollten in den Art. 121 und 122 eindeutig so definiert werden, dass sie innerhalb des Gesetzesrahmens liegen, und dass sie das Wesen von anzuwendenden Maßnahmen besitzen.

Es ist offensichtlich, dass diese empfohlenen Änderungen der Verfassung auch in der Gesetzgebung ihre Entsprechung finden und besonders auch im angewandten Recht.

Die Aufsichtsprobleme, die sich aus der Notstands- und Kriegsrechtsregelung ergeben und auch aus den rechtskräftigen Beschlüssen, die während deren Anwendung erlassen werden, (parlamentarische Untersuchung und gerichtliche Untersuchung) werden später im Abschnitt „Der Rechtsstaat“ behandelt.

2. V) Die Kurdenfrage

Wie in vielen Bereichen hat die türkische Revolution bemerkenswerte Erfolge bezüglich der Schaffung eines Nationalstaates erzielt. Jedoch ergibt sich ebenso wie bei in anderen Bereichen auftauchenden Widersprüchen (z. B. bei den anti-laizistischen Entwicklungen) auch hier ein Problem.

Es ist offensichtlich, dass diese Schwierigkeit, die als „die Kurdenfrage“ bezeichnet wird, auch soziale und wirtschaftliche Gründe hat. Daher wird der Begriff „Südost-Frage“ zu Recht oft mit dem Problem der Unterentwicklung in Zusammenhang gebracht.
Allerdings hat das Thema dieser Arbeit nichts mit dem sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu tun da es mit der kurdischen Identität verbunden ist.

Innerhalb des legalen Rahmens ist es möglich, das Problem folgendermaßen zu formulieren: Gibt es in den Gesetzen der türkischen Republik, die auf dem Konzept eines Einheitsstaates mit alleiniger Souveränität und Unteilbarkeit beruhen, Bestimmungen, die die kurdische Identität bestreiten und die korrigiert werden müssten? Wenn ja, um welche handelt sich?
Es ist richtig, direkt darauf hinzuweisen, dass man in der türkischen Verfassung nicht leicht auf unmittelbar diskriminierende, ablehnende Bestimmungen und Gesetze diesbezüglich trifft. Allerdings existieren, wenn auch nicht ausdrücklich, Klauseln und Bestimmungen, deren Resultat Diskriminierung und Ablehnung ist.

Die Türkei ignoriert folgendes Dilemma: Werden kulturelle und demokratische Rechte anerkannt, ist die Teilung unvermeidlich. Solange sie nicht anerkannt werden, hört der Terror nicht auf.

Die reichhaltige Erfahrung der Türkei sollte dieses Dilemma überwinden können. Unter diesem Aspekt wurde versucht, Empfehlungen zu diesem Thema zu untersuchen, zu kritisieren und zu erstellen. Absicht und Ziel sind darauf beschränkt, einen friedlichen und demokratischen „Anfang eines Entwurfs gesetzlicher Lösungen“ zu dem Problem zu präsentieren.

Rufen wir uns die internationalen gesetzlichen Dokumente zu diesem Thema in Erinnerung: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 2, 7, 22), das Abkommen zur Abschaffung aller Arten von Rassendiskriminierung (Artikel 2), das Internationale Abkommen der Vereinten Nationen zu kulturellen und politischen Rechten (Artikel 27), das Abkommen zu den Kinderrechten, die Pariser Charta, das Kopenhagen-Dokument etc..

Alle diese Dokumente enthalten Prinzipien und Rechte wie das verschiedener ethnischer Gruppen darauf, nicht diskriminiert zu werden, das Recht auf Gleichheit, auf die Möglichkeit, ihre Sprachen und ihre Kultur weiterzuentwickeln, auf den Schutz ihrer Identität, die Möglichkeit, ihre Möglichkeit, ihre eigene Sprache frei Identität frei auszudrücken, und die und überall zu benutzen.

Welche Mängel und Defekte werden in der Türkei nun im Kontext dieser Prinzipien beobachtet? Wir sind in der Lage, Kritik und Empfehlungen auf der Basis der von gewissen legalen Kreisen erstellten Studien und Berichte zu liefern.

1) Eigennamen

Das Bevölkerungsgesetz (Artikel 16) und die Institutionen der Bevölkerungsregistrierung mit der Nummer 7/13269 vom 8.3.1977 (Artikel 77) fordern, daß der Name, den Eltern ihrem Kind geben, konform sein muss mit „unserer nationalen Kultur“. Die Nachnamenregelung vom 24.12.1934 Nr. 2/1759 hält ferner fest, dass „neu angenommene Nachnamen der türkischen Sprache zu entnehmen sind, Namen ausländischer Rassen und Nationen dürfen nicht als Nachnamen verwendet werden.“ (Artikel 5 und 7) Diese Texte schreiben auch entsprechende Maßnahmen und Sanktionen vor.

Dies ist als ein indirektes Verbot kurdischer Vor- und Nachnamen anzusehen. Bis vor kurzem wurden auch entsprechende Anträge mit gerichtlichen Sanktionen belegt.

Jedenfalls wird in einem Rundschreiben des Innenministeriums von 1993 angewiesen, dass die gewünschten Namen ins Bevölkerungsregister eingetragen werden sollten, und, falls ein Gesetzesverstoß festgestellt würde, dieser nach Absprache mit dem Innenministerium der Staatsanwaltschaft gemeldet werden solle. Es ist klar, dass dieses Verfahren einer wirklich demokratischen und humanitären Lösung nicht angemessen ist.

Es ist kaum anzunehmen, etwas Ähnliches in demokratischen Staaten anzutreffen. Ein „Name“ ist ein persönliches Recht. Die Einmischung des Staates in diesem Bereich, außer innerhalb gewisser Grenzen (allgemeine Moral, Schutz des Kindes), entbehrt jeglicher Grundlage.

Vorschlag:

Im Bevölkerungsgesetz und den damit verbundenen Bestimmungen sollten die Veränderungen „Freiheit der Namensgebung“ garantiert und die Bedingung „nationale Kultur“ festgesetzt werden.

2) Namen von Siedlungsgebieten

Das Provinzialverwaltungsgesetz Nr. 5442 vom 10.06.1949 führte die Klausel ein, dass „… Dorfnamen …, die nicht türkisch sind, nach Absprache mit dem Ständigen Provinzialkomitee so schnell wie möglich vom Innenministerium zu ändern sind“. (Ergänzungsartikel 2, D2) Seitdem wurden kontinuierliche Änderungen von Dorf-, Städte- und Weilernamen beobachtet. Auch die Namen von Bergen, Gebirgen und Flüssen sind davon betroffen.

Die Namen von Siedlungsgebieten waren Ausdruck des kulturellen Reichtums und Vermächtnisses eines jeden Landes. Diese Namen sind Hunderte von Jahren alt. Sie stammen von der einheimischen Bevölkerung und wurden von ihr akzeptiert. Die Änderung durch Entscheidungen der Zentralregierung ist respektlos auch gegenüber dem Erbe der nationalen Kultur.

Vorschlag:

Die Wendung „die nicht türkisch sind“ sollte aus dem Ergänzungsartikel 2D des Provinzialverwaltungsgesetzes gestrichen werden, und ein Versuch sollte unternommen werden, zu den ursprünglichen Namen zurückzukehren.

3) Sprachverbote

Mit einem euphemistischen Statement, dem Gesetz zum Rundfunk in anderen Sprachen als der türkischen von 1983 wurde die kurdische Sprache wirkungsvoll verbannt. Dieses Gesetz wurde mit dem Artikel 23 des Gesetzes zum Kampf gegen den Terrorismus außer Kraft gesetzt (12. April 1991).

Die Grundlage dieses Verbotes jedoch existiert immer noch in der Verfassung, und zwar in folgender Form: „Keine verbotene Sprache soll zum Ausdruck und zur Verbreitung von Gedanken verwendet werden“ (Artikel 26/3), und „Publikationen dürfen in keiner verbotenen Sprache erscheinen“ (Artikel 28/2). Alle gedruckten Dokumente, Magnet- oder Videobänder müssen von den zuständigen Behörden beschlagnahmt werden, wenn eine Verzögerung als schädlich erachtet wird (Verfassungsartikel 26/3).

Trotz der Aufhebung des Gesetzes zum Sprachverbot haben diese verfassungsmäßigen Regeln immer noch Gültigkeit. Gemäß diesen Regeln und den entsprechenden Gesetzen werden ständig Entscheidungen zur Beschlagnahmung getroffen. Als Grund wird angegeben, dass kurdische Wörter nicht unmittelbar verstanden werden und so Zweifel darüber aufkommen lassen, ob sie kriminelle Absichten ausdrücken. Diese Praxis basiert auf den Bestimmungen des PVSK (Gesetz zu Dienst und Vollmacht der Polizei).

Diese Zustände müssen abgeschafft werden. Bisher kamen Gesetzesänderungen zur Sprache, die zwangsläufig aus konstitutionellen Veränderungen hervorgehen. In diesem Fall jedoch warten wir auf eine Verfassungsveränderung, die auf die Gesetzesänderung von 1991 reagiert. Diesmal muß darauf bestanden werden, dass die Verfassung geändert wird entsprechend dem Gesetz vom 12. April 1991, das eine antidemokratische Bestimmung außer Kraft gesetzt hat, und darauf, daß die Verfassung einem Gesetz angepasst wird.

Vorschlag:

Die Artikel 26 und 28 der Verfassung bezüglich „verbotene Sprache“ müssen abgeschafft werden.

4) Staatsbürgerschaft

Die Verfassung definiert Staatsbürgerschaft als „Jeder, der dem türkischen Staat durch staatsbürgerliche Bindung verbunden ist, ist Türke“ (Art. 66/1).

Diese Formulierung darf nicht verstanden werden als „Jeder in der Türkei ist Türke“ oder „Es gibt keine Kurden in der Türkei“. Es ist unmöglich, sich an Interpretationen und Auswertungen dieser Art zu beteiligen. Die oben genannte Formel bezieht sich lediglich auf den Begriff Staatsbürgerschaft, und es ist eine rechtmäßige Formulierung. Daher ist es falsch, sie kulturell oder sozial zu deuten. Darüber hinaus ist diese Formulierung in den Jahren des nationalen Befreiungskampfes entstanden und in derselben Form in die Verfassung von 1924 eingegangen. Aufgrund dieser Tatsache teilen wir die Kritik an dem entsprechenden Verfassungsgesetz nicht. Vielmehr betrachten wir diese Definition, „türkisch“ zu sein, als auf einer rechtlichen Grundlage beruhend, solange sie „Staatsbürgerschaft“ bezeichnet. Wir halten sie insofern für demokratisch.

Meinung:

Der Artikel 66/1 der Verfassung muss bestehen bleiben.

5) Was ist „Muttersprache“?

Die Verfassung besagt: „Außer Türkisch soll türkischen Staatsbürgern an Erziehungs- oder Bildungsinstitutionen keine andere Sprache als Muttersprache gelehrt werden. (Artikel 42, Schluss, 1. Satz)

Die Bemerkung des „Gesetzes zur Fremdsprachenerziehung und -vermittlung“ ist sehr befremdlich: „Muttersprachunterricht für türkische Staatsbürger darf in keiner anderen Sprache als auf türkisch erteilt werden“ (2923 – 14.10.1983, Artikel 2/a). Das Befremdliche daran ist: Gemäß diesem Satz können türkische Staatsbürger zwar eine andere Muttersprache haben als Türkisch, aber diese Muttersprache kann nur in türkischer Sprache gelehrt werden.

Bezüglich der Bestimmung in der Verfassung muss noch ein Punkt aufgegriffen werden: Wie der Name schon sagt, bezeichnet der Begriff „Muttersprache“ die „Sprache, die das Kind von seiner Mutter (seinem Vater) lernt“ (langue maternelle). Das ist ein soziales Phänomen. Amtssprache ist etwas anderes. Sie ist per Gesetz festgelegt. Unter der Unterüberschrift „Amtssprache“ lautet der relevante Teil von Artikel 3 der Verfassung: „Der türkische Staat ist eine unteilbare Einheit in Territorium und Nation. Seine Sprache ist Türkisch.“ (Artikel 3/1). Diesen Satz müssen wir verstehen als „die Sprache des türkischen Staates ist Türkisch“ oder, gemäß der Unterüberschrift, die den Gegenstand des Textes erklärt, als „Die Amtssprache des türkischen Staates ist Türkisch“.

Die Feststellung im letzten Absatz des Artikels 42 der Verfassung, die ein natürliches und soziales Phänomen wie die Muttersprache ignoriert und als „Amtssprache“ behandelt, ist beleidigend und beklemmend. Zu dieser Feststellung besteht absolut keine Notwendigkeit. Staat, Verfassung und Gesetze haben das Recht zu verfügen, dass die Amtssprache zuerst und obligatorisch als Sprache an allen Schulen gelehrt und gelernt wird. Aber das ist anders zu formulieren als in dem betreffenden Gesetz.

In diesem Zusammenhang ist es von Nutzen, die Bestimmungen des Abkommens zu den Kinder-rechten zu erwähnen, die die Türkei mit Vorbehalten akzeptiert hat. Sie besagen: Staatsparteien sollen „die Massenmedien anhalten, die sprachlichen Bedürfnisse eines Kindes, das einer Minderheit oder den Ureinwohnern angehört, zu berücksichtigen“ (Artikel 17/d). „Die Staatsparteien stimmen zu, dass die Erziehung des Kindes darauf ausgerichtet ist, den Respekt vor den Eltern, der kulturellen Identität, den vor Sprache und Werten, vor den nationalen Werten des Landes, aus dem das Kind stammt, und des Landes, in dem das Kind lebt, sowie vor Kulturen, die sich von ihm oder ihr unterscheiden, zu entwickeln …“ (Artikel 29/c). „In Staaten, in denen ethnische, religiöse oder linguistische Minderheiten oder Ureinwohner leben, darf dem Kind, das zur einen oder anderen Gruppe gehört, nicht das Recht versagt werden, mit Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu genießen, seine Religion auszuüben und zu praktizieren und seine Sprache zu sprechen.“ (Artikel 30)

Natürlich darf die Türkei diese Rechte, die sie den Kindern der Welt zugesteht, ihren Kindern, die Angehörige unterschiedlicher linguistischer Gruppen sind, nicht vorenthalten.

Vorschlag:

Bestimmungen am Ende des Verfassungsartikels 24 und des Gesetzes Nr. 2020, die logischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen, sollten außer Kraft gesetzt werden. Darüber hinaus sollte das Recht, seine Muttersprache in der Schule und/oder in jeder außerschulischen Einrichtung zu lernen und zu vervollkommnen, allen zuerkannt werden.

 6) Meinungsfreiheit

Artikel 8 des Anti-Terrorismus-Gesetzes erklärt „Propaganda gegen die Unteilbarkeit des Staates“ für strafbar. Wir haben dies hinreichend untersucht und anhand von Beispielen gezeigt, dass dieses Gesetz „geistige Straftaten“ herausfordert.

Selbst wenn das, was mit diesen vagen Straftaten gemeint ist, das Verbot von „separatistischer Propaganda“ beinhaltet, gehört dies nicht in eine freie Demokratie, denn „sich Teilung zu wünschen“ ist ebenfalls ein Gedanke. Es ist so, dass das Verbot, „Gedanken“ auszudrücken in einem Land und in einer Zeit, in der es separatistischen Terrorismus gibt, keine Bedeutung hat. Man kann sogar sagen, dass ein solches Verbot an „Nasreddin Hocas Mausoleum“ erinnert.

In demokratischen Staaten, angeführt von Frankreich, Spanien und Großbritannien, die außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen gegen separatistischen Terror ergriffen haben und das Recht dazu haben, gibt es kein einziges Beispiel zum Verbot von „separatistischen Gedanken“.

Außerdem ist aus den Gerichtsakten, die Gesprochenes und Geschriebenes der nach Artikel 8 des Gesetzes zur Bekämpfung von Terrorismus verurteilten Personen enthalten, leicht ersichtlich, dass diese nicht einmal „separatistische Ideen“ vorangetrieben haben.

Vorschlag:

Wie oben festgestellt wurde, muss Artikel 8 des Anti-Terrorismus-Gesetzes definitiv außer Kraft gesetzt werden. Die anderen Klauseln des Anti-Terrorismus-Gesetzes (Propaganda von terroristischen Organisationen) sind hinreichend.

7) Presse, Rundfunk und Kunstprodukte

Das Verbot, im Ausland gedruckte Schriften zu importieren und zu verteilen, die Tatsache, dass Verlage der Beschlagnahme ausgesetzt sind, die Konfiszierung von Videos und Musikkassetten und die Schließung von Veranstaltungshallen sind allgemein antidemokratische Bestimmungen. Auch dies wurde oben berücksichtigt, und bestimmte Empfehlungen wurden ausgesprochen. Es kann gesagt werden, dass diese repressiven Vorsichtsmaßnahmen in erster Linie auf kurdische Publikationen zielen.

Vorschlag:

Analysen und Empfehlungen bezüglich dieser Arten von Verboten und repressiven Maßnahmen sind oben gegeben worden. Diese allgemeinen Bestimmungen und die vorgeschlagenen Änderungen gelten auch in Bezug auf das hier betrachtete spezifische Problem und können positive Ergebnisse bringen.

8) Aktivitäten von Vereinigungen

Artikel 5, Klausel 6 des Gesetzes zu Vereinigungen besagt, dass es verboten ist, „Vereinigungen zu gründen, die sich auf die Existenz von Minderheiten berufen mit der Begründung, dass es innerhalb des Staates Türkei eine Vielfalt von Rassen, Religionen, Religionsgemeinschaften, Kulturen und Sprachen gebe, oder durch die Stärkung und Verbreitung von anderen Sprachen und Kulturen als der türkischen eine Minderheit erschaffen.“

Die Bestimmungen dieser Klausel haben, wie schon in Artikel 81 des Parteiengesetzes sichtbar wurde, einen extrem repressiven Charakter.

Laut Klausel 4 des Artikels 6 desselben Gesetzes ist einer Vereinigung der Gebrauch von „Plakaten, Schildern, Schallplatten, Ton- und Videokassetten, Broschüren, Handzetteln, Deklarationen oder ähnlichem in gesetzlich verbotenen Sprachen“ in öffentlichen oder geschlossenen Versammlungen ebenso verboten wie die Teilnahme an solchen Veranstaltungen. Im Zusammenhang mit diesem Verbot betonen wir nochmals unseren oben genannten Standpunkt.

Vorschlag:

Die Bestimmungen des Artikels 5/6 und des Artikels 6/4 des Gesetzes zu Vereinigungen sollten definitiv außer Kraft gesetzt werden. Die Türkei sollte nicht als „kulturell völkermordend“ gebrandmarkt werden können.

9) Rundfunk und Fernsehen

Es liegt auf der Hand, dass eine Garantie der notwendigen Freiheit in diesem Bereich ebenfalls vorteilhaft sein wird. In offiziellen Kreisen sind bereits Initiativen bzw. Bemühungen hinsichtlich dieses Zieles zu beobachten. Außerdem wird diese Art von Monopolisation und Prohibition im Zuge der Globalisierung bedeutungslos werden.

Vorschlag:

Das türkische Radio- und Fernsehgesetz sollte so korrigiert werden, dass Ausstrahlungen in anderen als der türkischen Sprache möglich sind.

10) Politische Parteien

Die Bestimmung des Artikels 81 des Parteiengesetzes lautet wie folgt: „Politische Parteien:

a) dürfen nicht behaupten, es gebe in der Republik Türkei Minderheiten, die sich durch nationale und religiöse Kultur, Rasse, Religionsgemeinschaft oder Sprache unterscheiden,

b) dürfen nicht das Ziel haben, die Einheit der Nation dadurch zu zerstören, dass sie Minderheiten schaffen, indem sie andere Sprachen und Kulturen als die türkische schützen, stärken und verbreiten, und sie dürfen in dieser Hinsicht keine Aktivitäten aufnehmen,

c) dürfen keine anderen Sprachen außer der türkischen beim Schreiben und der Publizierung ihrer Statuten und Programme, auf ihren Kongressen, auf ihren Versammlungen in öffentlichen und privaten Räumen, auf Tagungen und in ihrer Propaganda benutzen, sie dürfen keine Plakate, Schilder, Schallplatten, Ton- und Videokassetten, Broschüren und Deklarationen in einer anderen Sprache als der türkischen benutzen und verteilen; sie dürfen derartigen Aktivitäten vonseiten Dritter nicht tatenlos zusehen. Allerdings ist es möglich, dass ihre Bestimmungen und Programme in Fremdsprachen übersetzt werden, solange es sich dabei nicht um gesetzlich verbotene handelt.“

Dies war eine der Bestimmungen, die wir meinten, als wir festgestellt haben, dass die Türkei es nicht verdient hat, als „kulturell völkermordend“ gebrandmarkt zu werden. Außerdem befindet sich diese Reihe von Verboten in Widerspruch mit „Atatürks Zivilisierungsbestrebungen“. (Einleitung, Paragraph 5)

Vorschlag:

Entsprechend den Argumenten, die unter der Überschrift „Politische Parteien“ (Abschnitt 1) gegeben wurden, muss diese Bestimmung komplett abgeschafft werden.

20.1.1997

(Demokratisierungsperspektiven in der Türkei, Hrsg. V. TÜSIAD – Verband der türkischen Industriellen und Arbeitgeber; Übersetzung von Ulrike Schulte Overberg / Linda Best)

Kurdistan heute Nr. 21/22, September/Oktober 1997

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