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News-Eintrag vom 08.09.2017

Die Zeit ist reif für das Unabhängig­keits­­referendum in Kurdistan-Irak

Am 25. September 2017 wird in Kurdistan-Irak ein Referendum über die Unabhängigkeit stattfinden.

Zur Wahl werden nicht nur die Menschen in den Gouvernements Erbil, Dohuk, Sulaimaniyya und Halabdscha in der autonomen Region Kurdistan-Irak aufgerufen, sondern auch die Menschen in den Städten Kirkuk, Chanaqin und Sindschar, welche zwar nicht rechtlich, aber de facto innerhalb des Hoheitsgebietes der autonomen Region Kurdistan liegen. In der irakischen Verfassung ist ein Referendum vorgesehen, ob Kirkuk der Autonomen Region Kurdistan angeschlossen werden wird oder nicht. Das Referendum wurde jedoch bisher nicht durchgeführt. Dies stellt einen Verfassungsverstoß dar.

Die Forderung nach einem Unabhängigkeitsreferendum in Kurdistan-Irak ist keineswegs neu. So hat NAVEND – Zentrum für Kurdische Studien e.V. bereits am 1. November 2003 zu der seinerzeit laufenden Diskussion um die Notwendigkeit eines solchen Referendums eine Experten-Tagung durchgeführt (-> hier finden Sie die Dokumentation der Veranstaltung und unterhalb eine wissenschaftliche Arbeit zur kurdischen Frage). Seitdem haben sich freilich die Rahmenbedingungen erheblich geändert.

Die jetzige Entscheidung für ein Referendum hat international unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Während sich die Staaten Türkei, Iran und Irak vehement gegen das Referendum wenden, mahnen die USA, Russland und die Europäische Union zur Geduld. Sie appellieren an die Kurden, mit dem Irak und den anderen Nachbarstaaten zu einem Konsens zu kommen.

Kritiker befürchten insbesondere neue Konflikte in der Region und eine „Destabilisierung“. Diese Argumentation verkennt allerdings, dass die Region nie stabil war, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass die Siegermächte des Ersten Weltkrieges künstliche Grenzen gezogen hatten. Der irakische Zentralstaat ist faktisch gescheitert. Der Irak ist weit entfernt von einem funktionierenden Staatswesen und kann Sicherheit und Ordnung im Land nicht gewährleisten. Er ist politisch, religiös und territorial tief gespalten und zu einem Spielball und Schlachtfeld konkurrierender externer Interessen geworden. Im Gegensatz dazu hat sich das autonome Kurdengebiet als politisch und ökonomisch stabil erwiesen.

Die Entscheidung über die Abhaltung des Referendums wurde von der Regierung der Autonomen Region Kurdistan gemeinsam mit den meisten politischen Parteien dort getroffen und wird vom Großteil des Volkes in ganz Kurdistan sowie der kurdischen Diaspora unterstützt. Die lokalen Parteien und Gruppierungen, die sich nicht an dem Beschluss beteiligt haben, argumentieren, dass ein solches Referendum nur vom Parlament selbst entschieden werden solle. Zudem beklagen sie, es handele sich um einen ungünstigen Zeitpunkt, da die gesamte Region mit einer wirtschaftlichen und politischen Krise zu kämpfen habe. Außerdem sei Kurdistan noch nicht bereit für die Unabhängigkeit.

Auch wenn es bei dem Beschluss und der Durchführung dieser so weitreichenden Entscheidung Defizite und kritische Punkte geben mag, stellen diese jedoch nicht die Legitimation eines Referendums, bei dem die Bevölkerung gefragt wird, ob sie die Unabhängigkeit wünscht oder nicht, an sich in Frage. Denn die Legitimation eines solchen Referendums beruht in erster Linie auf dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker.

Obwohl das Selbstbestimmungsrecht ein elementares Prinzip des Völkerrechts darstellt, wurde bisher noch kein wirksamer Mechanismus geschaffen, um es auch konsequent auf friedlichem, gerechtem und demokratischem Wege umzusetzen. Stattdessen wurde die Gewährleistung dieses Rechts dem Willen des UN-Sicherheitsrats, der Großzügigkeit der Besatzungsmacht oder der eigenen Durchsetzungskraft eines Volkes, das nach seiner Unabhängigkeit strebt, überlassen.

Das Unabhängigkeitsreferendum in Kurdistan wird weder durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, noch durch ein bilaterales Abkommen mit dem Irak oder irgendeinen anderen multilateralen Beschluss zustande kommen. Die Entscheidung für ein Referendum wurde zum Teil damit begründet, dass die irakische Zentralregierung wiederholt ihren verfassungsrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Insbesondere geht es aber auch darum, den Unabhängigkeitswillen des kurdischen Volkes festzustellen, zu dokumentieren und öffentlich zu erklären.

Es mag ein Defizit sein, dass der Beschluss zum Referendum nicht durch das Parlament als eine gewählte Volksvertretung gefasst wurde. Die Legitimation wird dadurch jedoch nicht geschmälert, weil die Entscheidung auf einer breiten Zustimmung beruht und das Volk als Souverän ja letztendlich durch das Referendum seinen Willen direkt äußern wird.

Auch das Fehlen einer UN-Resolution oder eines internationalen Abkommens kann diese Legitimation nicht schmälern. Jedoch wird dadurch der Prozess der Anerkennung der Referendumsergebnisse eine größere Herausforderung. Die Anerkennung eines neu entstehenden unabhängigen Staates ist nach einem Referendum auf Basis einer UN-Resolution oder eines internationalen Abkommens in der Regel bereits vorgegeben. Aber die Gründung eines unabhängigen Staates, der nach einem Referendum als einseitige Willenserklärung entstehen soll, erfordert zur Anerkennung durch andere Staaten und für die Aufnahme in die Staatengemeinschaft besondere politische und diplomatische Prozesse.

Foto: https://www.flickr.com/photos/martijnmunneke/

Es ist eine Tatsache, dass das Unabhängigkeitsreferendum in Kurdistan in einer Phase stattfinden wird, in welcher der hundertjährige Status quo der Region im Zerfall begriffen ist und die bestehenden Grenzen neu gezogen werden. Für den Fall, dass bei dem Referendum für die Unabhängigkeit gestimmt wird, kann dieser Wille zwar international deklariert werden. Dies führt aber nicht zwangsläufig dazu, dass daraus auch ein unabhängiger Staat entsteht und anerkannt wird. Durch das Referendum werden jedoch die politischen Repräsentanten und die Institutionen nun konkret mit der Aufgabe betraut, einen unabhängigen Staat zu gründen und sich um dessen Anerkennung zu bemühen. In dieser Periode der Neugestaltung des Nahen Ostens ist es von großer Dringlichkeit, diese Willenserklärung jetzt zu dokumentieren, publik zu machen und danach zu handeln.

Die Erwartungen der kurdischen Bevölkerung sind verständlicherweise hoch. Daher weist NAVEND e.V. darauf hin, wie wichtig es ist, dass das Unabhängigkeitsreferendum erfolgreich abläuft und alle Vorbereitungen sorgfältig getroffen werden. Zum jetzigen Zeitpunkt würde eine Rücknahme der Entscheidung zum Referendum oder sein Misserfolg durch geringe Teilnahme oder ein schwaches Ergebnis einen irreparablen Schaden verursachen. Aus diesem Grund ist es richtig, die zunehmenden Forderungen nach einer Verschiebung des Referendums abzulehnen und sie nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn internationale Garantien für eine spätere Durchführung zu einem festgelegten nahen Zeitpunkt gegeben werden.

Alle verantwortlichen Institutionen und Organisationen sind nun aufgerufen, rechtzeitig die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Unabhängigkeitsreferendum unter freien, demokratischen, gerechten und transparenten Bedingungen nach internationalen Prinzipien und Standards durchzuführen.

Während des Wahlkampfes für das Referendum müssen das Recht auf freie politische Arbeit, Werbung nach demokratischen Regeln sowie gleicher und gerechter Zugang zu öffentlicher Unterstützung und den Medien gewährleistet sein.

Es sollen offizielle und zivilgesellschaftliche Wahlbeobachterdelegationen aus einem größtmöglichen nationalen und internationalen Spektrum eingeladen oder zugelassen werden. Außerdem sollten alle nötigen Maßnahmen ergriffen werden, um der Presse, Vertretern der Zivilgesellschaft und politischen Parteien die freie Beobachtung der Geschehnisse und eine genaue Berichterstattung zu ermöglichen.

Alle Wählerverzeichnisse sollen rechtzeitig und auf korrekte Art und Weise aktualisiert werden, damit jeder Wahlberechtigte sein Wahlrecht auch wahrnehmen kann. Das Referendum soll nach dem Prinzip „geheime Abstimmung – offene Auszählung“ erfolgen. Dabei muss die Sicherheit der Wahlen gewährleistet und mögliche Wahlfälschungen oder sonstige Unregelmäßigkeiten rechtzeitig und rechtsgemäß verhindert werden.

Wenn das Referendum im Rahmen dieser Prinzipien durchgeführt wird und die Beteiligungs- und Zustimmungsraten hoch sind, kann es auf internationaler Ebene eine noch stärkere Wirkung entfalten und das mit ihm verfolgte Ziel eher verwirklicht werden. Dafür sollen die politischen Parteien ihre Anhänger mobilisieren und die Regierung mit öffentlichen Wahlspots die Bürger zur Teilnahme motivieren.

Parallel dazu sollten die Parteien sich schnellstmöglich auf einen Zeitpunkt und Prinzipien zu den Neuwahlen für Parlament und Staatspräsident einigen, damit das Volk als Souverän seine Repräsentanten und Regierung bestimmen und somit sein inneres Selbstbestimmungsrecht ebenfalls wahrnehmen kann.

Die vordringlichste Aufgabe des neu gewählten Parlaments und der Regierung sollte darin bestehen, den im Referendum zum Ausdruck gebrachten Volkswillen umzusetzen und die dafür notwendigen Schritte zu ergreifen. In diesem Zusammenhang soll zunächst das Regierungssystem geklärt werden und dementsprechend eine neue Verfassung erarbeitet werden, die den Staat nach den Prinzipien der Gewaltenteilung und der gegenseitigen Kontrolle neu organisiert, die Grundrechte und -freiheiten garantiert, die Rechte der ethnischen und religiösen Minderheiten schützt, freie Wahlen garantiert, und von den Prinzipen der pluralistischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geleitet deren Institutionen auf Loyalität, Transparenz und Rechenschaftspflicht aufbauen.

Für die Kurdinnen und Kurden im Exil stellt sich die Aufgabe, die Bemühungen um einen demokratischen Prozess und eine rechtsstaatliche Entwicklung zu fördern und zu unterstützen.

NAVEND – Zentrum für Kurdische Studien e.V. 

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